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Ein Andersen-Märchen: Spielkartenbilder

Ich liebe ja Märchen und die von Hans Christian Andersen ganz besonders. Um so mehr habe ich mich gefreut, kürzlich beim Katalogisieren einiger Neueingänge für mein Antiquariat ein mir bisher unbekanntes Andersen-Märchen zu entdecken. Ich möchte meine Freude teilen und habe das Märchen mal abgetippt und die Illustrationen gescannt.

Spielkartenbilder
von Hans Christian Andersen

Was für niedliche Sachen man doch aus Papier ausschneiden und zusammenkleben kann! Das mußte man wirklich sagen, wenn man das Schloß anschaute, das auf diese Weise entstanden war, und das einen ganzen Tisch ausfüllte und aussah, als wäre es aus roten Steinen aufgebaut.

Es hatte ein leuchtendes Kupferdach, und es hatte Türme und eine Zugbrücke, und in den Schloßgräben floß Wasser, so blank wie Spiegelglas; denn es war Spiegelglas. Auf dem höchsten Turm stand ein Wächter, aus Holz geschnitzt; der hatte eine Trompete zum Blasen, aber er blies nicht.

Das alles gehörte einem kleinen Jungen mit Namen William, und er wand selbst die Zugbrücke auf und ließ sie wieder fallen, ließ seine Zinnsoldaten darüber marschieren, öffnete das Schloßtor und guckte in den großen Rittersaal hinein, an dessen Wänden in Rahmen, genau so wie die Bilder in den wirklichen Rittersälen, die Bilder eines Kartenspiels hingen: Herz, Karo, Treff und Pik, die Könige mit Krone und Zepter, die Damen mit über die Schultern herabhängendem Haar und einer Blume oder einem Fächer in der Hand, die Buben mit der Hellebarde und wehendem Federbusch, wie man es auf den Spielkarten sehen kann.

Eines Abends betrachtete der kleine Junge wieder durch das offene Schloßtor die Kartenbilder im Rittersaal und es erschien ihm, als grüßten die Könige mit ihrem Zepter, ja, als bewegte die Pikdame die goldene Tulpe, die sie in der Hand hielt, und als erhöbe die Herzdame ihren Fächer. Alle vier Königinnen aber gaben ihm gnädig zu erkennen, daß sie ihn recht gut bemerkten.

Da rückte er noch näher heran, um besser zu sehen, stieß aber dabei mit dem Kopf gegen das Schloß, so daß es in allen Fugen erbebte. Da hielten alle vier Buben: Treff, Pik, Karo und Herz, ihre Hellebarden vor, um ihn zu warnen, daß er nicht gar zu nahe auf das Schloß eindränge.

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Der kleine Junge verstand ihre Warnung wohl und nickte ihnen freundschaftlich zu; dann nickte er noch einmal und sagt: „Sprecht doch mal!“ Aber die Kartenbilder blieben stumm. Doch als er dem Herzbuben zum drittenmal zunickte, da sprang der aus seinem Kartenblatt heraus und stellte sich mitten in den Saal.

„Wie heißt du?“ fragte er den Knaben. „Du hast helle Augen und gute Zähne, aber du wäscht dir deine Hände nicht oft genug““ Das war ja nun ein bißchen grob gesagt. „Ich heiße William,“ rief der kleine Junge, „und dies ist mein Schloß, und du bist mein Herzbube!“

„Ich diene meinem König und meiner Königin, nicht dir!“ entgegnete der Herzbube. „Ich kann aus dem Blatt und aus dem Rahmen herausspringen. Und die hohen Herrschaften verstehen es noch besser. Wir könnten in die weite Welt hinausgehen, aber die haben wir satt; es ist ja viel behaglicher und bequemer, im Kartenblatt zu sitzen und sich selbst treu zu sein.“

„Seid ihr früher wirklich alle Menschen gewesen?“ fragte der Junge. „Menschen – gewiß!“ erwiderte Herzbube. „Aber nicht so gute Menschen, wie wir hätten sein sollen! Zünd ein kleines Wachslicht vor mir an, am liebsten ein rotes – denn das meine und meiner Herrschaft Farbe. Dann will ich dem Schloßherrn – denn du bist ja der Schloßherr, wie du sagst – unsere ganze Geschichte erzählen. Unterbrich mich aber nicht! Wenn ich reden soll, muß es in einem Zuge geschehen.

Siehst du meinen König dort, den Herzkönig? Er ist der älteste von den vier, denn er wurde zuerst geboren, geboren mit der goldenen Krone und dem goldenen Apfel. Er regierte gleich von Anfang an. Seine Königin kam mit einem goldenen Fächer zur Welt; den hat sie noch immer.
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Die beiden hatten es so gut von klein auf; sie brauchten nicht in die Schule zu gehen, konnten den ganzen Tag spielen, Schlösser erbauen und niederreißen, Zinnsoldaten zerbrechen und mit Puppen spielen. Verlangten sie Butterbrote, dann waren beide Seiten des Brots mit Butter bestrichen, und darauf war Puderzucker gestreut. – Das war die gute, alte Zeit, das goldene Zeitalter, wie es genannt wird; aber schließlich bekamen sie es es satt, und ich auch. Das war damals, und dann – kam Karokönig.“

002Mehr sagte Herzbube nicht; der kleine Junge lauerte darauf, noch mehr zu hören, aber vergebens. Und da fragte der Junge: „Und dann?“ Herzbube antwortete nicht, sondern stand steif und hochmütig da, die Augen geradeaus auf das angezündete Wachslicht geheftet. Der Kleine nickte und nickte wieder und bekam doch keine Antwort.

Da wandte er sich dem Karobuben zu; und als er ihm zum drittenmal zunickte, da sprang der aus seinem Kartenblatt hervor, stellte sich auf und sagte nur das einen Wort: „Wachslicht!“ Der kleine Junge zündete sofort ein rotes Licht an und setzte es vor ihn hin.

Da präsentierte Karobube mit seiner Lanze und sagt: „Dann folgte Karokönig! Ein König mit einer Glasraute auf der Brust! Und auch der Königin konnte man bis ins Herz sehen, so daß man erkannte, daß sie ebenso beschaffen waren wie alle anderen Menschen. Das war so ergötzlich, daß man ihnen aus Freude darüber ein Denkmal setzte. Das stand ganze sieben Jahre hindurch, aber es war ja für die Ewigkeit errichtet!“

Und dann präsentierte Karobube und schaute vor sich hin auf sein rotes Wachslichtlein.

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Und ohne daß der kleine William ihm zugenickt hätte, schritt auf einmal Treffbube hervor, ganz gravitätisch, wie der Storch zu gehen pflegt, wenn er das Feld überschreitet; der schwarze Klee in der Ecke der Karte flog wie ein Vogel über ihn hin und flog dann wieder zurück und setzte sich dahin, wo er vorher gesessen hatte.

004Und Treffbube begann, ohne erst wie die beiden anderen um ein Wachslicht zu bitten: „Nicht alle bekommen Butter auf beide Seiten der Brotschnitte und Zucker darauf; so gut haben mein König und meine Königin es nicht gehabt.

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Die mußten in die Schule gehen und lernen, was die früheren Könige nicht gelernt hatten; auch sie trugen eine Glasraute auf der Brust. Wenn aber jemand hineinschaute, so tat er es nur, um zu sehen, ob im Uhrwerk drinnen nicht etwas in Unordnung wäre, damit er scheitern könnte. Ich weiß es, denn ich habe meiner Herrschaft alle die Jahre hindurch gedient und diene ihr immer noch und gehorche ihrem Willen. Jetzt will meine Herrschaft, daß ich heute abend nicht mehr reden soll; darum schweige und präsentiere ich.“ Das tat er auch; William aber zündete auch ihm ein Lichtlein an, das war strahlend weiß.

005„Husch!“ Schneller als das Licht angezündet wurde, stand Pikbube mitten im Rittersaal. Er war so geschwind zur Stelle, und doch humpelte er, als hätte er ein krankes Bein. Er grüßte nicht, und es knackte in ihm, denn es war vieles in ihm vom Leben geknickt und gebrochen worden, und er hatte viel durchgemacht.

Und nun redete er: „Jeder hat ein Wachslicht bekommen, und ich bekomme auch eins, das weiß ich. Aber wenn wir Knappen ein Lichtlein haben sollen, so gebührt es der Herrschaft dreifach, und mein Pikkönig und die Pikkönigin müssen vier Lichtlein bekommen, denn ihre Geschichte ist sehr traurig, und das Schicksal hat sie schwer geprüft. Sie haben wahrlich Ursache, sich schwarz zu kleiden und einen Grabspaten in ihrem Wappen zu führen.

Ich will aber ihre Geschichte nicht erzählen, auch meine eigene nicht, sondern will nur sagen, daß man mir im Kartenspiel den Spottnamen ‚Schwarzer Peter‘ gegeben hat. Und einst war ich doch erster Kavalier beim Pikkönig, und nun bin ich letzter.

Ich erzähle die Geschichte meiner Herrschaft nicht; sie will es nicht haben! Du kleiner Schloßherr magst sie dir selbst zurechtlegen, wie du willst; aber es ist traurig, wie es mit uns zurückgegangen ist. Und es wird nicht wieder vorwärtsgehen, bis wir alle auf dem roten Pferd hinaufreiten, hoch über die Wolken hinauf!“

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Und der kleine William zündete drei Lichtlein für jeden der Könige und drei für jede der Königinnen an; aber die Herrschaft Pik bekam je vier Lichtlein. Da wurde es so strahlend hell in dem Rittersaal wie im Schloß des reichsten Kaisers, und die hohen Herrschaften grüßten mild und gnädig.

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Herzdame bewegte den goldenen Fächer, und Pikdame schwang die goldene Tulpe, so daß eine feurige Lohe daraus hervorschlug. Die hohen Paare entstiegen den Kartenblättern und Rahmen und tanzten Menuett inmitten der feurigen Lohe, und die Knappen taten desgleichen. Der ganze Saal schien in Flammen zu stehen. Es raschelte und rauschte, und die Lohe schlug aus Fenstern und Wänden hervor, bis das ganze Schloß Glut und Flamme war.

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Da sprang William erschrocken beiseite und rief nach Vater und Mutter: „Das Schloß brennt!“ Es knisterte und flammte, aber im Feuer rauschte und sang es: „Nun reiten wir auf dem roten Feuerroß hoch über die Wolken empor. So geziemt es sich für ritterliche Männer und Frauen! Die Knappen folgen!“

Ja, ein solches Ende nahm es mit Williams Schloß und den Spielkartenbildern. William lebt heute noch und wäscht seine Hände. Er war aber nicht schuld daran, daß das Schloß in Brand geriet.

Ein bisher (1910) unveröffentlichtes Märchen H.C. Andersens. Das dänische Originalmanuskript ist im Besitz von Frau Prof. Bögh in Kopenhagen. Deutsch von Hermann Kiy. Aus „Die Woche“. Moderne illustrierte Zeitschrift XII, 1910, pp. 2228-32. Illustrationen von Fritz Wolff.

Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Vorlage aus dem Jahr 1910.

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